Das Tübinger Cyber Valley und das „Prinzip Amazon“

„Woher kommt unsere devote Haltung gegenüber den selbsternannten „Techno-Pionieren“ von Amazon, Google, Facebook, Apple und Co? Welche gesellschaftlichen Probleme haben sie bislang gelöst? Das Energie-Problem? Das Klima-Problem? Die Wohnungsnot? Den Verkehrsinfarkt durch den Individualverkehr? Nichts von all` dem – nicht einmal ansatzweise. Eher tragen sie zu deren Verschärfung bei.“ (aus: Capulcu „Make amazon pay“)

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In deutschen und italienischen Amazon-Logistikzentren streiken die Beschäftigten seit Jahren erfolglos für Tarifverträge. In Kreuzberg wird aus Protest gegen Gentrifizierung der neue „Google-Campus“ besetzt – nach ähnlichem Muster soll in Tübingen das Amazon-Café und Co-Working-Space entstehen. Selbst die neoliberal gepolte EU-Kommission greift die unfassbare Steuervermeidungsstrategie der Internetkonzerne an. Die Stadt Seattle versucht, Amazon als Verdränger Nr. 1 an einer Obdachlosensteuer zu beteiligen und scheitert, weil Amazon zu mächtig ist. Über 500 deutschsprachige Schriftsteller*innen und 900 Schriftsteller*innen der USA unterschreiben einen Protestbrief an Amazon, in dem sie dem Konzern Erpressung vorwerfen: „Schriftsteller*in 3.0 müsse bedeuten, sich neben dem Schreiben gegen Konzerne wie Amazon zur Wehr zu setzen“. Birkenstock und andere mittelständische Unternehmen klagen vor Gericht, um den Konzern daran zu hindern, gegen den Willen der Hersteller als Verkäufer ihrer Produkte aufzutreten. Diese Liste ließe sich leicht verlängern.

Und in Tübingen? Hier herrscht Gründerstimmung bei Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft. Das „Cyber Valley“ gilt zuallererst als „Leuchtturm“ der Forschung und Amazon als dessen „Magnet“. Sogar einzelne Künstler*innen stimmten kürzlich bei einer öffentlichen Diskussion in diesen Chor ein. Für welche Zwecke, mit welchen Zielen und zu wessen Nutzen geforscht werden soll, scheint für sie alle keine Rolle zu spielen. Wohlgemerkt: Das Cyber Valley forscht an Künstlicher Intelligenz und damit in einem Bereich, der auch von seinen aufgeklärten Befürworter*innen als das aktuell riskanteste und absehbar eine Vielzahl ethischer Probleme produzierende Forschungsfeld eingeordnet wird. Hier entstehende Technologien können gleichzeitig ungeahnte Macht und Manipulationsmöglichkeiten verschaffen. Und „Forschungspartner“ sind weltweit operierende Konzerne wie Amazon oder die deutschen Automobilbauer und mit ZF Friedrichshafen zumindest auch ein im Rüstungssektor aktiver deutscher Großbetrieb.
Trotzdem oder gerade deshalb frohlocken die Einen über „hochattraktive“ Arbeitsplätze und weltweites Ansehen, der „grüne“ OB sieht ein dringend benötigtes neues Geschäftsmodell für Baden-Württemberg. Andere wollen mit dem Fortschritt sein und freuen sich auf das angelockte, angeblich spannende und bunte Forscher- und Firmengründervölkchen. Natürlich wehrt der Amazon-Direktor für Maschinelles Lernen im Tagblatt-Interview jegliche Kritik an seinem Unternehmen pauschal ab. Von der Lokalpolitik wird Amazon zwar als nicht unproblematisch angesehen (was im Übrigen kaum anders auch für die beteiligten deutschen Konzerne gelten müsste), aber laut OB Palmer überwiege für Tübingen der Nutzen und „der Firma die Tür vor der Nase zuzuschlagen, würde Tübingen enormen Schaden zufügen“. Welche ernst zu nehmende Prüfung er da vorgenommen hat, bleibt sein Geheimnis. Im Frühjahr 2018 stimmte die Mehrheit des Gemeinderats der Vergabe öffentlicher Flächen grundsätzlich zu und gab grünes Licht für weitere Verhandlungen mit Amazon und den genannten anderen Unternehmen.

Es sollte uns allen zu denken geben, wie stark selbst im beschaulichen Tübingen die Ideologie vom globalen Konkurrenzkampf wirkt, an den man den Anschluss nicht verlieren darf, und wie natürlich es auch hier erscheint, der Aufrechterhaltung und Förderung des Profitsystems Vorfahrt vor allem anderen zu geben. An die Stelle von Skepsis und kritischem Hinterfragen tritt naiver Fortschrittsoptimismus.

Wir fordern:

Ein klares „Nein!“ des Gemeinderats zum Verkauf von Flächen an die profit-orientierten Akteure des Cyber Valley!

Statt Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen braucht es offene und gemeinnützige Patente (Open Source, Creative Commons) nach dem Motto „Public money, public code“!

Die in Tübingen an Universität und MPI betriebene, mit öffentlichen Mitteln bezahlte Wissenschaft muss der Allgemeinheit dienen, nicht privaten Profitinteressen!

Offenlegung von Verträgen und Zahlungen zwischen Unternehmen wie Amazon und Wissenschaftler*innen der Universität und des MPI!

Förderung von Initiativen für ein nachhaltiges, gutes Leben für alle – wenn Forschung an Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen, dann nur zu diesen Zwecken!

Es gibt viele Gründe, das Cyber Valley in der derzeit geplanten Form abzulehnen. Einiges wurde in der öffentlichen Diskussion bereits angerissen: mögliche militärische Nutzung der KI-Forschung oder Gentrifizierung bzw. beschleunigte Verdrängung auf dem sowieso angespannten Wohnungsmarkt durch den massiven Zuzug von gut bezahlten Wissenschaftler*innen. Wir möchten ausgehend von unserer oben skizzierten Argumentation hier einen weiteren Grund besonders beleuchten:

Das Prinzip Amazon
Amazon startete 1994 als Online-Versand von Büchern, inzwischen kann über Amazon mit über 450 Millionen Produkten alles bestellt werden. Amazon nimmt fast die Hälfte jedes Dollars ein, der in den USA online ausgegeben wird. Dort hat Amazon bereits eine Biolebensmittelkette übernommen und plant in Zukunft auch „bargeldlose“ Supermärkte zu betreiben: Komplettüberwacht von hunderten gesichtserkennenden und bewegungsanalysierenden Kameras ist das ein Vorgeschmack auf die smarte Cyber-Profit-Überwachungs-City.
Zudem expandiert Amazon als Logistikunternehmen bis hin zu Flugzeugen und hat seit neuestem eine eigene Kreditkarte. Daneben wachsen insbesondere die Analyse von Nutzer*innendaten sowie die Vermietung von Internetplattformen und Servern (Clouds). Amazon-Chef Jeffrey Besos, dem reichsten Menschen der Welt, gehört zudem inzwischen auch die Zeitung „Washington Post“.

Das Handelsblatt schrieb im September 2018:

„Der Aufstieg von Amazon und Apple zeigt eine neue Ordnung, die gerade entsteht. Technologiekonzerne häufen immer mehr Macht und Reichtum an und beherrschen zunehmend Märkte und Wirtschaft.“

Das Prinzip Amazon ist das eines monopolkapitalistischen, gigantischen Konzerns. Investitionskapital und Macht von Amazon werden ermöglicht durch umfassende Datenanalysen, effektive Steuervermeidung, eine beispiellose Konkurrenzstrategie „kreativer Zerstörung“ und gnadenlose Ausbeutung von Angestellten und Arbeiter*innen in den Versandlagern. Amazon dominiert schon längst den Einzelhandel weltweit und weitet sich ständig und immer schneller auf neue Produktfelder und Entwicklungsbereiche aus. Diese müssen dafür zunächst gar nicht rentabel sein: Amazon verfügt über so umfassende Mittel, dass neue Artikel und Dienstleistungen zunächst günstig oder sogar kostenlos angeboten werden können – bis so viel von ihnen abhängt, dass dafür auch gezahlt wird. Auch wenn Amazon „Start-Up-Kulturen fördern“ möchte, entstammt das diesem Konzept: Entwicklung und Risiken sind ausgelagert, die tauglichsten Ergebnisse können bequem abgeschöpft werden.
Darüber hinaus breitet sich ein gnadenloses Verwertbarkeitsprinzip auf alles aus, was mit Amazon in Kontakt kommt oder kommen muss. Das bedeutet für Angestellte und Arbeiter*innen in den Versandlagern die permanente Vermessung ihrer Leistung und in Folge dessen Ausbeutung, für Forscher*innen, von vornherein wirtschaftlich denken zu müssen, für Nutzer*innen Überwachung, Datenabschöpfung und in letzter Konsequenz die Kalkulation und Kontrolle ihrer Bedürfnisse und Möglichkeiten.

Deshalb muss es auch eine Illusion bleiben, wenn Amazon verspricht, sich an Forschung zu beteiligen, die unser aller Leben verbessern wird. Amazon wird die angepriesene „Grundlagenforschung“ selbstverständlich betreiben, um sie zu verwerten. Die Gewinne würden dabei natürlich privatisiert. Amazon geht es nicht um die Automatisierung schwerer oder öder Tätigkeiten wie etwa in der Logistik, damit Menschen weniger geknechtete Wesen sind. Es geht um maschinelle Arbeitskraft, die keine fairen Löhne, Verträge oder stressfreie Pausen fordert. Und es geht nicht auch nicht darum, die frei gesetzte menschliche Arbeitskraft anders zu verteilen und allen ein würdevolles und besseres Leben zu ermöglichen.
Auch bei Smart Homes und Smart Cities geht es nicht in erster Linie darum, das Leben FÜR ALLE einfacher zu machen, sondern früher oder später werden all diejenigen ausgeschlossen, die mit Geld, Daten, Zugeständnissen nicht mehr bezahlen können oder wollen.

Natürlich wird Amazon auch in Tübingen von vielen genutzt und es mag wie eine Verbesserung erscheinen, wenn Konsumwünsche zu jeder Zeit bequem befriedigt werden können. Die Hörigkeit, kindlich-naive Begeisterung oder „devote Haltung“, die dem Konzern entgegen gebracht wird, rührt vermutlich genau daher, dass Amazon schon so sehr Teil unseres Lebens ist, dass es schwierig wird, den Konzern mit seinen Praktiken zu kritisieren, ohne bei sich selbst anzukommen.

Doch genau hier müssen wir ansetzen und ehrlich sein: Amazon & Co haben eben keine der großen Probleme der Menschheit gelöst, sondern nur zu ihrer Verschärfung beigetragen oder neue geschaffen. Gleichzeitig zielen sie ganz offensichtlich darauf ab, unsere Entscheidungsfähigkeit zu manipulieren und uns das Gefühl zu geben, auf sie angewiesen zu sein.

Amazon ist nicht progressiv, kreativ oder visionär. Der Konzern und das Prinzip Amazon sind totalitär, denn sie versuchen, in immer mehr Lebensbereichen die Produktion und die Befriedigung von Wünschen und Bedürfnissen alternativlos zu dominieren. Auf dieses Prinzip kann die einzig sinnvolle Antwort sein, sich zu verweigern! Es ist völlig angebracht und notwendig, vor dem größten Konzern der Welt sämtliche Stadttore zuzuschlagen und dem Verkauf städtischer Flächen nicht zuzustimmen!

Es wäre sicher nicht das Ende der Möglichkeiten, Tübingen zu einem wirtschaftlich gedeihenden Ort zu machen – genauso wenig wie 2006, als der Chemie-Multi Böhringer nach öffentlicher Kritik seine Pläne für einen Tübinger Standort zurückzog. Und auch Amazon würde davon – leider – nicht untergehen.

Doch Tübingen hat jetzt die Chance, ein Zeichen zu setzen gegen die Macht der Internetkonzerne und gegen eine Forschung zu Künstlicher Intelligenz, die weder an Werten und Zielen gemessen noch am Gemeinwohl orientiert ist, sondern vor allem Profitinteressen dient.

Das wäre ein Zeichen, dass Tübingen es mit Nachhaltigkeit, Menschenrechten und einem guten Leben für Alle ernst meint!

 

Quellen und mehr Informationen
– Technologiekritische Texte der Initiative capulcu:
https://capulcu.blackblogs.org/

– Initiative „Make Amazon pay“: https://makeamazonpay.org/