Taksim ist überall

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 Aufruf der Interventionistischen Linken (iL)

Wir schreiben diese Zeilen am Tag des Versuchs der türkischen Polizei, den Taksim-Platz und den Gezipark zu räumen. Nach 14 Stunden harter Kämpfe zunächst zum Rückzug gezwungen, griff die Polizei am Abend erneut, diesmal noch brutaler an, wortwörtlich dem Ministerpräsidenten Erdogan folgend, der zuvor das „Ende der Toleranz“ für die „Marodeure“ des Taksim-Platzes erklärt hatte: „Wir werden Provokateure und Terroristen verfolgen – niemand wird davon kommen“. Im Augenblick ist nicht klar, welchen Verlauf diese Nacht nehmen wird. Doch wird die Auseinandersetzung nicht nur in Istanbul, sondern auch in vielen anderen Städten der Türkei fortgesetzt, auch in den nächsten Tagen und Nächten.

Wir rufen dazu auf, den Widerstand auch auf die Plätze deutscher Städte zu tragen. Ein breites Bündnis deutscher, türkischer und kurdischer Linker plant schon zum kommenden Samstag (15. Juni) Demonstrationen vermutlich in Hannover, Düsseldorf, Mannheim und Berlin, für die darauf folgende Woche wird eine zentrale Kundgebung in Köln vorbereitet. Wir werden dabei sein.

Frankfurt und Istanbul. Weltweit gleichen sich die Bilder – trotz der Unterschiede im Ausmaß und in der Intensität dessen, was sie sichtbar machen: Brutalisierte Polizeieinheiten kesseln Demonstrant*innen ein, jagen die Menschen mit Wasserwerfern über Straßen und Plätze, stürzen sich zu dritt oder zu viert auf Einzelne, verdrehen Festgenommenen Arme und Beine, setzen ohne jede Rücksicht auf Unbeteiligte, ohne Rücksicht auch auf Alte oder Kinder Tränen- und Pfeffergas ein, schlagen mit ihren Knüppeln gezielt auf Journalist*innen, Sanitäter*innen, Rechtsanwält*innen ein. Wer auch immer ihr jeweiliger Dienstherr ist, der türkische oder der hessische Innenminister: umstandslos eignen sich die paramilitärisch hochgerüsteten Rollkommandos vorgeblich demokratischer Staatsmacht zum Einsatz auch im Auftrag diktatorischer Regimes. Daran ändert sich nichts, wenn das Oberkommando der Polizei eine Woche später Grußsignale über alle Frequenzen sendet: Wir wissen, dass sie bei nächster Gelegenheit wieder zuschlagen werden, unter der Anleitung irgendeines anderen Ministers, irgendeines anderen Ordnungsdezernenten.

Weltweit gleichen sich die Bilder. Frankfurt und Istanbul, Tunis, Kairo, Athen, New York, Madrid, Teheran, Aleppo und Qamishli. Tausende, Zehntausende, Hunderttausende sind nicht länger bereit, sich Mächten und Verhältnissen zu beugen, die ihnen nicht nur das Einkommen, die Wohnung, den Zugang zu Bildung und Gesundheit, ihre in Jahrzehnten erkämpften sozialen und politischen Rechte, sondern schlicht die Luft zum Leben: die Aussicht überhaupt auf ein Leben in Würde rauben. Nicht zufällig fordern die Massenversammlungen überall auf der Welt vor allem anderen „Demokratie“, nicht zufällig realisieren sie ihre Forderung unmittelbar in der Rückeroberung eines freien und öffentlichen Raumes als des ersten und einzig angemessenen Raumes einer Politik der Commune, die sich radikal von den Verwaltungen des bürgerlich-nationalen Staates wie des Kapitals trennt.
Nicht zufällig kommt es dabei zu Allianzen, die noch vor kurzem so nicht möglich gewesen wären. So tragen die Demonstrant*innen auf dem Taksim-Platz die gelben Fahnen der kurdischen PKK, die roten Fahnen der türkischen Linken und die schwarz-roten und lila Fahnen der anarchistischen und feministischen Jugend. Mittendrin, die eine neben der anderen, Fahnen der Ultras von Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas Istanbul. Halten diese Allianzen dem Druck stand, gelingt es ihnen, sich – wie auch immer begrenzt – durchzusetzen, dann wird dies eine Neugründung der politischen Projekte einschließen, die ihren organisierten Kern bilden: Die vereinigte Linke des Taksim-Platzes wird eine neue politische Kraft, wird eine andere, eine Neue Linke sein. Sie wird dies auch deshalb sein, weil die von diesem Platz ausgehende Bewegung von entscheidender Bedeutung für die laufenden Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK ist. Die PKK führt diese Verhandlungen seit längerem schon als eine politische Kraft, deren Ziel nicht mehr ein unabhängiger kurdischer Staat, sondern die umfassende Demokratisierung der Türkei ist: auch und gerade deshalb ist sie Teil der Allianz des Taksim-Platzes. Das Geschehen auf diesem Platz ist darüber hinaus auch für den Fortgang des Aufstands in Syrien von wesentlicher Bedeutung, zu dessen emanzipatorischen Momenten das dortige kurdische Autonomieprojekt gehört.

Wenn wir heute dazu aufrufen, sich auch den Plätzen deutscher Städte zu versammeln, rufen wir nicht einfach nur zu einer Aktion internationaler Solidarität auf. Denn auch die Frankfurter Blockupy-Proteste wurden – obwohl ihre Dimension bis jetzt allemal eine deutlich kleinere ist – wie die des Taksim-Platzes von einer neuen politischen Allianz getragen, einer Allianz, die sich ebenfalls als Kern einer noch zu schaffenden, vielstimmigen Linken begreift: „Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie, wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus!“

Heute, zwei Wochen nach den Blockupy-Protesten, geht es uns darum, das Potenzial dieser Allianz zu erproben und zu erweitern: Nicht, indem wir uns von hier aus mit den Kämpfen unserer Genoss*innen fern von hier auf dem Taksim-Platz solidarisch erklären, sondern indem wir, den ursprünglichen Begriff von Solidarität erneuernd, ihren Kampf praktisch zu unserem machen: hier, nach unseren Bedingungen, unseren Möglichkeiten und nach unseren Kräften, auf unseren Straßen und Plätzen, in einer gemeinsam Aktion mit den Genoss*innen der türkischen und kurdischen Linken, die sich schon Ende des letzten Jahres zu einer gemeinsam Plattform zusammengeschlossen haben. Es ist dies jetzt schon ein Anfang mehr im Kampf um eine Demokratie, die ihren globalen Anspruch und ihre Radikalität in der Zurückweisung aller Grenzen bewährt.

Crisis demands decision – Let’s choose communism!

interventionistische linke am 11. juni 2013