Commons und Soziale Infrastruktur: Vergesellschaftung als Doppelstrategie

Ein Kommentar der iL Tübingen zur Vergesellschaftungsbroschüre der interventionistischen Linken

In der Einleitung der Vergesellschaftungsbroschüre blieb unseres Erachtens ein Moment von Vergesellschaftung unterbelichtet, das wir aber für wesentlich halten: Die Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge, d.h. die Garantien eines Gemeinwesens hinsichtlich eines menschenwürdigen Lebens für ALLE seiner Mitglieder, gleich, ob jemand schon immer da war oder neu hinzugekommen ist und gleich, welch konkreter Beteiligung er/sie fähig oder willens ist.

Das würde bedeuten, „Staat“ anders zu denken, d.h. ein freies Gemeinwesen und den kapitalistischen Staat nicht in eins zu setzen, sondern Strategien zu entwickeln, wie ersteres aus letzterem heraus entwickelt werden kann – mit welchen nötigen Brüchen auch immer. In diesem Sinne verstehen wir unter Vergesellschaftung eine Doppelstrategie:
Einerseits ist der Kampf um die praktische Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums unerlässlich, um in Eigeninitiative und Kreativität die Erfahrung von erfolgreichem kollektivem Handeln zu machen und gemeinsam Lösungen für gesellschaftliche Probleme unmittelbar im Alltag zu erarbeiten. Ein gelungenes Beispiel dafür finden wir die Wohnprojekte des Mietshäusersyndikats, die Wohnraum als Grundbedürfnis aus der kapitalistischen Verwertung herauslösen und kollektiver Nutzung ohne Eigentumsrechte und unter demokratischen Entscheidungsstrukturen zuführen. Solche konkreten, aber räumlich begrenzten Projekte bezeichnen wir als Commons. Da Commons aber immer nur für eine begrenzte Gruppe verfügbar sind, besteht die Gefahr von Ausschließung all derer, die daran aus welchen Gründen auch immer nicht beteiligt sind, und es können – quasi als Begleiterscheinung – Grundlagen für neue Klassenstrukturen gelegt werden (Projekt-Eliten). Darüber hinaus würde die bloße Vernetzung von Commons nicht wesentlich über die kapitalistische Waren- und Konkurrenzvergesellschaftung hinausweisen – wie die Erfahrung der Alternativökonomie der 70er und 80er Jahre beweist.
Deshalb müssen die Commons andererseits mit einer „garantierten Sozialen Infrastruktur“ zusammen gedacht werden, die allen zugute kommt – ohne, dass man sich dafür in irgendeiner Weise qualifizieren muss. Es gibt vieles im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, was sowohl in Projektform als auch in Form von Sozialer Infrastruktur vorstellbar ist, aber: Die aktive und kreative Gestaltung in Form von Commons macht vor allem dann gesamtgesellschaftlich Sinn, wenn sie eingebettet ist in ein Gesamtkonzept der Garantie Sozialer Infrastruktur. Denkbar ist sicherlich auch das Überführen von Commons in Infrastruktur und die Weiterentwicklung infrastruktureller Elemente in Projekt(Commons)-Form. Wichtig ist bei allem Nachdenken über Soziale Infrastruktur auch, die Gefahr der (Staats-)Bürokratisierung und die Frage nach den Bedürfnissen nicht zu vernachlässigen. In dieser Perspektive stellt sich das Verhältnis zwischen den beiden Strategieelementen – Commons auf der einen, Soziale Infrastruktur auf der anderen Seite – letztlich auch als ein potentiell konfliktives dar.
Aber trotzdem: Es steht u.E. auf der politischen Tagesordnung, gerade in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Energieversorgung, Mobilität u.ä., dem neoliberalen Privatisierungsprojekt (und der rückwärtsgewandten Sozialstaatsromatik) unter der Perspektive „Vergesellschaftung“ mit der genannten Doppelstrategie praktisch entgegen zu treten.

Untrennbar mit „Vergesellschaftung“ verbunden ist für uns die Notwendigkeit, den ökonomischen Fokus von der Produktion auf die Reproduktion zu verlagern. Das heißt zum Einen: Was muss produziert werden, um die Reproduktion der Menschheit samt ihrer natürlichen Lebensgrundlagen zu garantieren und was kann (unter tragbaren gesellschaftlichen Kosten) produziert werden, um dem Leben durch Dinge Farbe, Spaß und Abwechslung zu verleihen. Was wollen wir also für welche Bedürfnisse produzieren? In welcher Form? Was brauchen wir? Das heißt zum Anderen aber vor allem, dass es uns um die Zentralität der Sorge- bzw. Reproduktionsarbeit gehen muss, der höchste Anerkennung gebührt und die einer kollektiven Organisation bedarf. Vergesellschaftung im Sinne eines Hereinholens der Ökonomie in die Gesellschaft, der Abschaffung der Produktion als Selbstzweck (zur Verwertung des Wertes) ist ohne einen Bruch mit der patriarchalen Logik und den ihr entsprechenden Zuschreibungen und Bewertungen undenkbar.

Doch was bedeutet das für den vorhandenen Bereich der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums, für die industrielle Großproduktion (und ihren abgeleiteten Bereich, die „Finanzwirtschaft“)? Vergesellschaftung hieße da formal zunächst Demokratisierung, andere Eigentumsformen und andere Vermittlungen zwischen Produktion und (KonsumentInnen-)Bedürfnissen. Einen Sektor der industriellen Großproduktion finden wir besonders spannend und zentral: Die Energiewirtschaft. Sie ist ganz direkt mit der öffentlichen Daseinsvorsorge verknüpft, ist hochgradig (Kapital-)konzentriert und sie spielt eine zentrale Rolle in der Verwertungsmaschinerie. (Weniger stark ausgeprägt und gesellschaftlich vielleicht weniger durchsichtig, gibt es das auch im Verhältnis von Gesundheitsbereich zur Chemie- und Apparateindustrie.)
Im Rahmen von Kämpfen im Bereich der Energieversorgung kann Konzernmacht insgesamt auf der ideologischen wie auf der praktischen Ebene in Frage gestellt und können Großprojekte in Richtung Dezentralisierung umgelenkt werden (denn die Produktivkräfte, die sich in der Möglichkeit zu massenhafter Produktion erneuerbare Energie im Mini- und Midibereich widerspiegeln, legen andere, dezentrale, vernetzende Produktionsverhältnisse nahe). Und nicht zuletzt können in der Konsequenz erste Schritte der Übernahme von Kontrolle in „Vergesellschaftungs“-Strukturen (kommunale, genossenschaftliche, etc) unternommen werden. Hier liegen unseres Erachtens eine Reihe nicht zu unterschätzender strategischer Möglichkeiten.

Aber egal, wo mit der Vergesellschaftungsforderung angesetzt wird, wird man immer mit dem Gegenargument der Eingrenzung des „Begünstigtenkreises“ und der Konkurrenzsituation konfrontiert werden. Eine zentrale Fragestellung in der Vergesellschaftungsdiskussion besteht also darin, in welchem Rahmen Forderungen und Schritte zu denken sind: Im nationalstaatlichen, im kontinentalen, im weltweiten oder einfach zunächst im lokalen.