Ein Jahr ist es nun her, dass am 04.11.2011 die Existenz der Nazi-Terrorstruktur Nationalsozialistische Untergrund (NSU) bekannt geworden ist. Auf das Konto des Terror-Netzwerks, zu dem neben Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt noch mindesten 97 weitere UnterstützerInnen gerechnet werden können, gehen mindestens 9 rassistische Morde, ein Mord an einer Polizistin, ein rassistischer Anschlag in der Keupstraße in Köln sowie mehrere Banküberfälle – Zusammenhänge zu anderen Anschlägen wie dem Bombenanschlag in Düsseldorf 2000 und weiteren ungeklärten Morden sind noch unklar.
Seitdem vergeht kaum eine Woche in der nicht neue Details ans Licht der Öffentlichkeit dringen. Dabei handelt es sich weniger um Enthüllungen über Strukturen, Hintergründe, gesellschaftliche Zusammenhänge oder gar politisch Verantwortliche, sondern eher um einen Plot, der für einen Agententhriller wohl als zu unrealistisch gelten würde: Er beinhaltet misslungene Vertuschungsaktionen der Geheimdienste, eine darin verstrickte Polizei, Verfassungsschutz, MAD, CIA, BND. Bis hin zu einem V-Mann-Führer, der während des Mordes in Kassel an Halit Yozgat am Tatort war, jedoch weder Schuss noch Leiche wahrnahm und einigen staatlich subventionierten Nazis – im Behördenjargon V-Leute genannt –, die ihren Lohn direkt in den Aufbau faschistischer Strukturen stecken.
Dabei beschränkt sich die staatliche Aufklärungsarbeit vor allem auf Schadensbegrenzung. Alle bekannt gewordenen Fakten kamen entweder zufällig oder durch politischen Druck ans Licht der Öffentlichkeit. Und Konsequenzen werden allenfalls personell auf Verwaltungs-, nicht auf politischer Ebene gezogen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass am Ende nicht nur wenig Licht ins Dunkel des NSU-Komplexes gebracht worden sein wird und der Geheimdienstsapparat strukturell gestärkt aus der Sache hervorgeht.
Weg mit dem Geheimdienst-System
Bis November 2011 verneinte der Verfassungsschutz die mögliche Existenz von terroristischen Nazi-Strukturen. Und das obwohl drei Geheimdienste über Jahre im Thüringer Heimatschutz – der Neonazi-Organisation aus der der NSU Ende der 1990er hervorging – zwischen 35 und 45 Spitzel hatten und diesen geradezu mit aufgebaut und finanziert hatten.
Seit 1990 kamen mehr als 180 Menschen aufgrund faschistischer Gewalt um. Sie wurden stets als Opfer von EinzeltäterInnen betrachtet. Diese Verharmlosung hat historische Gründe: Der Verfassungsschutz wurde 1950 im Zuge des Kalten Krieges zwischen Ost und West als antikommunistischer Inlandsgeheimdienst gegründet. Für diese Aufgabe wurden viele erklärte AntikommunistInnen rekrutiert: ehemalige Nazis, die sich mit dem Kampf gegen Links bestens aus kannten. Ideologisch flankiert wurde das von der zu diesem Zeitpunkt reaktivierten Totalitarismustheorie, der Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus, die die behauptete demokratische Mitte gleichermaßen bekämpfen müsse. Doch lassen wir uns davon nicht täuschen: Der Verfassungsschutz war nie als Instrument gegen Rechts geplant, sein einziger Zweck war und ist die Bekämpfung der “linken Gefahr”.
Diese Tradition ist bis heute ungebrochen. Und so erklärt sich auch die Unterstützung und Kumpanei des Verfassungsschutzes mit den Nazi-TerroristInnen: Ideologisch teilen sie die selben rassistischen und anti-emanzipatorischen Grundannahmen. Oder wie ein ehemaliger V-Mann die Zusammenarbeit mit einem VS-Beamten beschrieb: “Das führte natürlich auch zu Männerfreundschaften”
Niemand ist auf dem rechten Auge blind gewesen, vielmehr wurden sehenden Auges die Strukturen, die den NSU gebaren, mit aufgebaut, protegiert und finanziert. Die Rede von Pannen oder “schlampigen Ermittlungen” verschleiert nur die Beteiligung staatlicher Stellen.
An den Geheimdiensten gibt es nichts zu reformieren. Sie arbeiten, wie der Name schon sagt, im geheimen, entziehen sich so also jeglicher Kontrolle durch Öffentlichkeit und Politik. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass diejenigen, die zwar scharf den VS kritisieren, ohne jedoch die konsequente Abschaffung der Geheimdienstpraxis zu fordern, letztendlich mehr Kompetenzen und bessere Zusammenarbeit mit polizeilichen Apparaten anstreben – die Schaffung einer Superbehörde in der polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse zusammen geführt werden also. Es kann nicht angehen, das die Geheimdienststrukturen aus dem NSU-Skandal gestärkt und mit noch mehr Macht hervorgehen.
Das Problem heißt Rassismus!
Die Ermittlungen der Behörden basierten auf rassistischen Grundannahmen. Verdächtigt wurde das Umfeld der Opfer, den Ermordeten wurde posthum unterstellt, durch ihr Verhalten selbst einen Anlass zur Tat gegeben zu haben. Diese Grundannahmen wurden auch von Medien und Öffentlichkeit nicht in Frage gestellt, sondern übernommen. Es scheint allen eingeleuchtet zu haben, das die Opfer angeblich selbst Dreck am Stecken haben, anstatt rassistische Tatmotive in Betracht zu ziehen. Manifestiert hat sich diese Sichtweise in der Benennung der Soko „Bosporus“ zur Aufklärung der medial so bezeichneten „Döner-Morde“.
Dies alles wäre ohne den auch in der Gesellschaft vorhandenen Rassismus nicht möglich. Ein Rassismus, der alle die keinen deutschen Pass haben oder so aussehen, als ob sie in den Augen der RassistInnen keinen Haben sollten, unter Generalverdacht stellt und ihnen grundlegende Rechte, wie das auf Bewegungsfreiheit, freie Wahl des Wohnorts und Schutz von Gesundheit und Leben aberkennt: Nazis morden – Der Staat schieb ab … und die große Mehrheit schaut dabei schweigend – und nicht wenige auch zustimmend – zu.
Faschismus und Rassismus entstehen nicht aus dem Nichts, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Ihre Ideologien der Ungleichheit – Rassismus, Nationalismus, Militarismus oder Patriarchat – sind, wenn auch entschärft, auch die der selbsternannten bürgerlichen Mitte. Erinnert sei nur an Sarrazin und sein rassistisches Hetzwerk, das zu den meistverkauften Sachbüchern der Nachkriegszeit gehört …
Brauner Osten…?
Neonazis, Rassismus und der NSU-Skandal sind keine rein ostdeutschen Probleme. Auch wenn der NSU in Thüringen seinen Ursprung hatte: Die Terrorserie war nur möglich, weil sie durch ein Neonazi-Netzwerk mit mindestens 100 Personen unterstützt wurde – auch im Westen. Seit dem Zusammenbruch der DDR wird versucht, die Ursachen von neonazistischen Einstellungen und Erscheinungsformen mit den autoritären Strukturen der DDR oder dem „staatlich verordneten Antifaschismus“ zu erklären. Unbeachtet bleibt die Tatsache, dass nach dem Anschluss der DDR scharenweise Nazikader aus dem Westen in die neuen Bundesländern zogen, die im Aufeinandertreffen mit einer weit verbreiteten gewalttätigen rechten Subkultur die Saat ausbrachten, aus der Ende der 1990er der NSU wuchs. Und auch einige der wichtigsten Unterstützer und Finanziers der Nazi-Szene – die Verfassungsschutzbehörden in den neuen Ländern – waren bis auf wenige Ausnahmen mit Personal aus dem Westen besetzt.
Rassistische und faschistische Einstellungen waren immer schon in der Bevölkerung beider deutschen Staaten vorhanden. Freigesetzt wurden sie erst im Zusammentreffen mit der kapitalistischen Ideologie der Ungleichheit, der Konkurrenz-Gesellschaft, in der voran kommt, wer sich gegen Schwächere durchsetzt.
Antifa?!
AntifaschistInnen haben bereits in den 1990er-Jahren auf die virulente Gefahr rechtsterroristischer Strukturen hingewiesen und auch gegen wen sich diese richten würden. Der Staat reagierte damals mit Repression gegen die Antifa. In den Jahren 1997/98 wurden zwei antifaschistische Demonstrationen, die sich gegen den Thüringer Heimatschutz richteten, verboten. Sogar Hubschrauber kamen zum Einsatz, um anreisende AntifaschistInnen bereits auf der Autobahn abzufangen und hunderte in den ehemaligen Stasi-Knast in Unterwellenborn zu stecken. 1998 geschah auch der – nach heutigem Kenntnisstand – erste Mord durch eine Person aus dem Umfeld des Thüringer Heimatschutz. Die 14-jährige Jana G. wurde am 26.03. von einem Jugendlichen aus der Neonazi-Szene auf offener Straße in Saalfeld erstochen. Und im selben Jahr waren bereits vier funktionierende Rohrbomben in einer Garage gefunden worden, die von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe benutzt worden war. Man hätte also gewarnt sein können.
Am 04.11.2011, als die NSU-Struktur bekannt wurde, waren trotzdem viele überrascht. Dass das, wovor man selbst gewarnt hatte, über 13 Jahre Realität gewesen ist, haben wir selbst nicht für möglich gehalten. Und auf furchtbare Weise wurde uns wieder einmal klar gemacht, das wir uns im Kampf gegen Rassismus und Faschismus nicht auf den Staat und seine Behörden verlassen können.
Der Auf- und Ausbau antifaschistischer Strukturen bleibt unerlässliche Notwendigkeit, der gemeinsame Kampf mit Betroffenen und migrantischen Organisationen gegen Rassismus – nicht nur von Neonazis – muss intensiviert werden. Diejenigen, die schon kämpfen sind wenige, sie brauchen Unterstützung. Die, die sich noch immer mit den Verhältnissen abfinden und in ihrer Ohnmacht verharren, müssen ermutigt werden, ihre Interessen selbst zu vertreten und sich zur Wehr zu setzen. Fangen wir lieber heute als morgen damit an.
Anlässlich ein Jahr Auffliegen des NSU heißt das:
• Öffentlicher Druck für eine konsequente Aufklärung ohne Rücksichten auf Geheimschutz!
• Entschädigung der Opfer!
• Abschaffung der Geheimdienste statt Ausbau der Behörden die Rechtsterrorismus fördern!
• Aufdeckung und Bekämpfung faschistischer Strukturen als eigene antifaschistische Pflicht begreifen!
• Staatlichen & gesellschaftlichen Rassismus benennen und angreifen!
Interventionistische Linke (iL)
www.dazwischengehen.org