Überall steigen die Mieten, wer sich das nicht leisten kann, muss an den Stadtrand oder in die umliegenden Dörfer ziehen. Die Maßnahmen, die auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene dagegen getroffen wurden, sind angesichts der Dimension des Problems selbst und der Lobbyarbeit der Eigentümer_innen und Investor_innen gegen eine Begrenzung ihrer Möglichkeiten nicht mehr als Kosmetik. Die aktuellen Fördermittel für den Sozialen Wohnungsbau werden nicht einmal den Rückgang wegen Verkäufen ausgleichen können.
Auch wenn die Tübinger Stadtplanung vergleichsweise offensiv versucht, Spekulationsgewinne bei der Ausweisung von Bauland einzuschränken, werden doch auch weiterhin Bebauungspläne direkt mit Eigentümer_innen und Investor_innen ausgehandelt und deren Wunsch nach einer profitablen Nutzung entsprochen, wie am Beispiel des Tübinger Güterbahnhofs zu erleben war. Wenn dabei wieder der Verkauf einiger Grundstücke an Baugruppen vereinbart werden kann, wird dies vor allem Menschen mit höherem Einkommen und/oder Vermögen nützen. Wenn die GWG dort Bauplätze erhält, wird sie wieder gezwungen sein, Eigentumswohnungen zu bauen, um damit Sozialwohnungen quer zu finanzieren.
An den grundsätzlichen Ursachen der Wohnungsfrage und Mietproblematik, erst recht innerhalb der kapitalistischen Krisendynamik, können diese Maßnahmen nichts ändern. Solange Wohnraum eine Ware ist, wird sich die Mietsituation insgesamt nicht verbessern. Eine wirklich soziale Wohnungspolitik braucht umfassendere Eingriffe in die am Profit ausgerichtete kapitalistische Verwertung des Grund- und Immobilienbesitzes.
Wir gehen davon aus, dass ein gutes Leben für alle dann möglich wird, wenn in einem ersten Schritt die unmittelbare Daseinsvorsorge, also auch der Wohnraum, den Mechanismen der Kapitalverwertung entrissen und gesellschaftlich organisiert – vergesellschaftet – werden kann. Vergesellschaftung verstehen wir dabei als Doppelstrategie:
Einerseits ist der Kampf um die praktische Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums unerlässlich, um in Eigeninitiative und Kreativität die Erfahrung von erfolgreichem kollektivem Handeln zu machen und gemeinsam Lösungen für gesellschaftliche Probleme unmittelbar im Alltag zu erarbeiten. Ein gelungenes Beispiel dafür finden wir die Wohnprojekte des Mietshäuser Syndikats, die Wohnraum Stück für Stück aus der kapitalistischen Verwertung herauslösen und einer gemeinsamen Nutzung ohne Eigentumsrechte und unter demokratischen Entscheidungsstrukturen zuführen; ergänzt durch ein Statut, das Reprivatisierung unmöglich macht und Überschüsse in einen Solidarfond überführt. Dadurch können ganz konkret die Lebensbedingungen und damit die Ausgangsbedingungen für emanzipatorische politische Kämpfe verbessert werden: Die Wohnprojekte garantieren auf unbestimmte Zeit günstige Mieten, gleichzeitig müssen sich die Menschen in den Projekten nicht mit Vermieter_innen auseinandersetzen. Die Wohnprojekte bieten Raum für politische Veranstaltungen und unkommerzielle Kultur, potentiell auch Schutzräume für marginalisierte Gruppen. Außerdem bieten sie die Möglichkeit, mit verschiedenen Konzepten des Zusammenlebens zu experimentieren. Dabei können die anfallenden Reproduktionsaufgaben (Putzen, Kochen, Kinder hüten usw.) aufgeteilt und so die bürgerliche Kleinfamilie in Frage gestellt werden. Kurz: Hier kann das Leben in solidarischen und selbstorganisierten Zusammenhängen praktisch ausprobiert werden. Ähnliches wurde in bewegteren Zeiten auch durch Instandbesetzungen leerstehenden Wohnraums angestrebt – vielleicht kommt bei wachsender Not auch diese Option wieder vermehrt in den Blick. Solche konkreten, aber räumlich begrenzten, gemeinschaftlichen Projekte bezeichnen wir als Commons, oder Gemeingüter. Da Commons aber immer nur für begrenzte Gruppen verfügbar sind, ist der Ausschluss all derer vorprogrammiert, die aus unterschiedlichen Gründen nicht daran beteiligt sind. Außerdem besteht die Gefahr, dass staatliche Stellen Projekte wie die des Mietshäuser Syndikats als Feigenblatt für ihre neoliberale Wohnungspolitik verwenden. Darüber hinaus würde die bloße Vernetzung von Commons nicht wesentlich über die kapitalistische Waren- und Konkurrenzgesellschaft hinaus weisen – wie die Erfahrung der Alternativökonomie der 70er und 80er Jahre beweist.
Deshalb müssen die Commons andererseits mit einer „garantierten Sozialen Infrastruktur“ zusammen gedacht werden, die allen zugute kommt – ohne, dass man sich dafür in irgendeiner Weise qualifizieren muss. Das bedeutet, den „Staat“ nicht mit dem kapitalistischen Staat in eins zu setzen, der in letzter Konsequenz die möglichst reibungsarme Kapitalverwertung organisiert. Uns geht es darum, Strategien zu entwickeln, wie ein freies Gemeinwesen aus dem kapitalistischen Staat entwickelt werden kann – mit welchen notwendigen Brüchen auch immer. Es wäre durchaus auch unter den gegebenen Verhältnissen möglich, damit zu beginnen, Mittel aus Steuereinnahmen, die bisher als staatliche Sozialleistungen individuell, selektiv und repressiv (zur Sicherung des Zwangs zur Lohnarbeit) zugewiesen wurden, zusammen mit ebenfalls zu streichenden Subventionen dazu zu nutzen, allen die gesellschaftlich garantierte Grundlage für ein gutes Leben bereitzustellen: Den kostenlosen Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen, Pflege, kulturellen Angeboten, Mobilität und nicht zuletzt zu gutem, am besten kostenlosem, vom Gemeinwesen oder Eigeninitiativen demokratisch selbst verwalteten Wohnraum in ausreichender Menge. Ergänzt durch ein garantiertes Einkommen, welches universal, d.h. umfassend und für alle, und unkonditioniert, also frei von jeder Bedingung, gewährt werden muss. Bei der Umstellung auf die Garantie einer Sozialen Infrastruktur würde neben den individuellen Sozialleistungen auch ein Großteil der staatlichen Bürokratie wegfallen. Ein solches Gemeinwesen würde sich vom gegenwärtigen Staat schon wesentlich unterschieden. Auch um der Gefahr einer autoritären (Staats-)Bürokratisierung etwas entgegenzusetzen, ist eine Kombination der garantierten sozialen Infrastruktur mit einer breiten Commonsbewegung unerlässlich.
Am Beispiel des garantierten Einkommens wird vielleicht am deutlichsten, dass eine solche Strategie automatisch globale Ausmaße hat: Aktuelle Migrationsdynamiken werden weiter vorangetrieben, denn Menschen bewegen sich verständlicherweise dort hin, wo die Aussichten auf ein gutes Leben am besten sind. Dabei entziehen sie sich dem globalen Kapital und seinen mörderischen Bedingungen als Arbeitskräfte, welche aber für die Aufrechterhaltung der weltweiten Ausbeutungsketten notwendig sind. Um allen Menschen ein gutes Leben zu garantieren, müssen letztendlich global Bedingungen durchgesetzt werden, die neben der Garantie der Teilhabe an der Daseinsvorsorge eine selbstbestimmte Wahl der Konsumgüter gewährleisten.
Mit dem Fokus auf die Vergesellschaftung des Wohnraums stellen wir uns gegen eine Logik der Produktion als Selbstzweck (zur Verwertung des Wertes). Die zentrale Frage allen gesellschaftlichen Handelns muss es sein, wie wir am besten unsere Bedürfnisse befriedigen können und was dafür produziert werden muss. Für die Bedürfnisbefriedigung unerlässlich ist der Bereich der Pflege- und Sorgearbeit. Diese Arbeit wird immer noch, ob bezahlt oder unbezahlt, größtenteils von Frauen erledigt. Eine Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge ist ohne einen Bruch mit der patriarchalen Logik, die dieser Arbeitsteilung zugrunde liegt, undenkbar. Pflege- und Sorgearbeit muss konsequent als kollektive Aufgabe begriffen und gemeinsam organisiert und aufgewertet werden.
Es steht unseres Erachtens auf der politischen Tagesordnung, gerade auch im Bereich des Wohnraums dem neoliberalen Privatisierungsprojekt und der rückwärtsgewandten Sozialstaatsromantik unter der Perspektive „Vergesellschaftung“ mit der genannten Doppelstrategie praktisch entgegen zu treten. Das Problem Wohnungsnot und steigende Mieten kann niemand mehr wegdiskutieren. Wir sehen hier in Tübingen, dass selbst eine vergleichsweise progressive städtische Wohnungspolitik auf der Basis des Bestehenden die Probleme nicht lösen kann. Mit der Forderung nach der Vergesellschaftung von Wohnraum wollen wir, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, sichtbar wird und wächst.