Stadtentwicklung und Wohnen in Tübingen
Explodierende Mieten trotz stadtplanerischer Bemühungen
Nach einer Studie des Marktforschungsunternehmens F+B aus Hamburg zu Mietpreisen in Deutschland belegte Tübingen im Jahre 2014 bundesweit den vierten Rang. Im August 2015 lag die Durchschnittsmiete in Tübingen bei 9,68€/m² und damit um 40 % höher als die Durchschnittsmiete in Deutschland von 6,90€ (www.imowelt.de). Egal, welche Berechnungsgrundlagen für solche Studien in den letzten Jahren herangezogen werden, es bestätigt sich immer wieder: Die Mieten in Tübingen sind unglaublich hoch und steigen weiter. Eine bezahlbare Wohnung zu finden und zu behalten, wird für immer mehr Menschen immer schwieriger, auch weil die Realeinkommen der Mieter_innen seit Jahren bestenfalls stagnieren und der Niedriglohnsektor beständig wächst.
Auch in Tübingen spiegeln die unterschiedlichen Zugänge zu Wohnraum gesellschaftliche Hierarchien wieder: Menschen werden aufgrund ihres tatsächlichen oder vermeintlichen sozialen Status, ihres Aufenthaltstatus, ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Orientierung, Behinderung(en) u.a. räumlich ausgeschlossen. Im städtischen Wohnraumbericht von 2014 heißt es: „Die erkennbar größten Probleme haben Personengruppen mit besonderem Bedarf,z.B. Haushalte mit geringem Einkommen, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, Alleinerziehende, Migrantenhaushalte [sic] und große Familien. Mit den vorgenannten Bevölkerungsgruppen konkurrieren die studentischen Wohngemeinschaften um preisgünstige Mietwohnungen. Diese sind jedoch oft zahlungskräftiger und stechen einkommensschwache Gruppen in der Bewerbung um die Wohnungen aus.“
Während das Angebot an Wohnungen im gehobenen Stil bzw. im Luxusbereich in Tübingen tendenziell wächst, konkurrieren andere um ein winziges Zimmer in den Dörfern rund um Tübingen, für das inzwischen auch 300 € kalt gezahlt werden muss. Diese Ein- und Ausschlüsse vom Wohnungsmarkt sind jedoch keine Tübinger Besonderheit – der Zugang zu Wohnraum geht, wo er kapitalistisch organisiert ist, immer mit Herrschaftsverhältnissen einher. Der Mangel an günstigem Wohnraum wirkt in der Universitätsstadt Tübingen z.B. auch als „sozialer Numerus Clausus“. Kinder aus ärmeren Familien können sich das Studium hier nicht leisten. Für Menschen mit niedrigen Einkommen kommt ein Umzug nach Tübingen generell kaum in Frage.
Es ist jedoch keineswegs so, dass die Tübinger Stadtverwaltung und der Gemeinderat auf die wachsende Wohnungsproblematik nicht reagiert hätten. Sie haben in den letzten Jahren durchaus für Wohnungsbau gesorgt und eine – im Vergleich zu anderen Städten – recht progressive Stadtentwicklungspolitik betrieben. Mit Französischem Viertel, Loretto, Mühlenviertel und Alter Weberei wurden neue, teilweise sozial gemischte Wohngebiete geschaffen. Instrumente wie die Einrichtung städtebaulicher Entwicklungsbereiche, die es der Stadt ermöglichten, beim Kauf von Grundstücken den Spekulationsaufschlag durch die Eigentümer_innen zuverhindern, Bürgerbeteiligung und das Modell der Baugruppen ermöglichten bedarfsgerechteres, selbstorganisiertes und kostengünstigeres Bauen für die Mittelschichten.
Daneben setzten die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften in den letzten Jahren im Umfang wie in keiner anderen Stadt in Baden-Württemberg Landesmittel zum Bau von Sozialwohnungen ein, was allerdings bei dem niedrigen Gesamtumfang im Land kein Beleg für ein grundsätzlich anderes Herangehen ist. Dennoch: Im Zuge der Innenentwicklung entstanden auf freien Flächen meist alltagstaugliche Quartiere mit zentralen öffentlichen Plätzen, Nutzungsmischung von Gewerbe und Wohnen und sozialer Mischung von Eigentums- und Sozialwohnungen.
Mit dem sogenannten „Tübinger Modell“ scheint die Stadt also einiges dafür zu tun, gutes, bezahlbares Wohnen für alle Einkommensgruppen zu ermöglichen. Das Ergebnis ist trotzdem ernüchternd, wie im aktuellen Wohnraumbericht von 2014 zu lesen ist: „Trotz der seit langer Zeit höchsten Bautätigkeit in Tübingen ist noch keine spürbare Entspannung auf dem Wohnungsmarkt eingetreten.“
Auch die aus der aktuellen Flucht- und Einwanderungsbewegung entstandene Situation setzt zentrale Aspekte der Wohnungspolitik in Tübingen insgesamt in ein deutlich kritischeres Licht: Der neoliberale Umbau der Städte, im Zuge dessen der soziale Wohnungsbau massiv gekürzt und der Bestand an öffentlichem und damit preisgünstigem Wohnraum massiv verringert wurde, ist an Tübingen keineswegs spurlos vorbei gegangen. Auch hier hat der Zubau den Wegfall in keiner Weise ersetzt. Diese Lücke wirkt nun doppelt. Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass wirtschaftliche Eliten bereits seit Jahren ökonomisch verwertbare Einwanderung fordern – die nun auf dramatische, aber keineswegs unvorhersehbare Weise auch massenhaft stattfindet – hätte eine wesentlich weitsichtigere Wohnungsbaupolitik nahegelegt, gerade im preisgünstigen Sektor und nicht vor allem bezogen auf die Mittelschicht. Die Unterklassen werden nun mit der zusätzlichen Deklassierungsdrohung (nach derjenigen durch die „Agenda 2010“) konfrontiert, in der Konkurrenz um knappen und überteuerten Wohnraum auf der Strecke zu bleiben. Dies gilt für die Einwander_innen, aber genauso und vielleicht noch schmerzhafter – weil nicht mit der Hoffnung auf eine neue Perspektive verbunden – für die bereits Ortsansässigen mit kleinen Einkommen.
Angesichts der großen Wohnungsnot wird auch Leerstand in Tübingen seit einiger Zeit wieder öffentlich zum Thema, ausgelöst durch einen Leserbrief („Wo sind die Hausbesetzer?“, 2012) über das heute immer noch leerstehende Haus in der Gartenstraße 7. Einige der etwa 450 leerstehenden Wohnungen (nach Abzug von übergangsweisem Leerstand) können übrigens unter http://www.leerstandsmelder.de/tuebingen-reutlingen eingesehen und ergänzt werden. Seit Dezember 2013 ist in Baden-Württemberg das Zweckentfremdungsgesetz in Kraft. Es gibt den Gemeinden die Möglichkeit, Leerstand durch eine städtische Verordnung mit einem Bußgeld zu ahnden. Doch bisher hat die Stadt Tübingen es vermieden, in die Praktiken und letztlich in die unbeschränkten Eigentumsrechte der traditionell starken kommunalen Haus- und Grundbesitzer-Lobby einzugreifen.
Das rächt sich nun, wo die Flüchtlingsunterbringung zum Riesenproblem geworden ist. Und es ist ein doppelter Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die seit Jahren unter der grassierenden Wohnungsnot leiden, dass Oberbürgermeister Palmer angesichts der aktuellen Situation nun damit droht, den leerstehenden Wohnraum – allerdings ausschließlich für die Flüchtlingsunterbringung – zu beschlagnahmen. Ihm muss klar sein, dass er mit einer solchen 180° Wende vielleicht von seinem eigenen politischen Versäumnis ablenken kann, dass damit jedoch vor allem Ressentiments gegen Flüchtlinge geschürt werden.
Doch selbst wenn der leer stehende Wohnraum in Zukunft genutzt werden würde, würde die Wohnungsnot in Tübingen dadurch bestenfalls ein klein wenig gelindert. Viel wichtiger wäre eine längst überfällige Debatte darüber, in welchem Verhältnis das Recht Aller auf menschenwürdiges Wohnen und die Rechte privater Eigentümer_innen (von nicht selbst genutztem Wohnraum) bzw. privater Investor_innen stehen. Denn tatsächlich wird die Attraktivität Tübingens in der neoliberalen Konkurrenz der Städte und im Kontext der kapitalistischen Krise selbst zum Katalysator der Mietsteigerungen. Tübingen wächst nicht nur durch den Zuzug von Studierenden und nun auch von Flüchtlingen, sondern auch aufgrund seiner urbanen Qualitäten (jungdynamisches Image, kulturelle Infrastruktur, kurze Wege, Verfügbarkeit von Kindertagesstätten für arbeitende Eltern und Alleinerziehende, etc.). Zu diesen haben zwar keineswegs alle gleichen Zugang haben, doch diese Qualitäten sind ökonomisch verwertbar, gerade wenn sie den zahlungskräftigeren Mieter_innen vorbehalten bleiben. Institutionelle Anleger_innen haben dies erkannt und wollen aus den weichen Standortfaktoren Profit schlagen. Sie planen – angesichts der üblichen Mietpreise durchaus profitabel – private Wohnheime für Studierende, investieren in den neuen gemischten Stadtquartieren (aktuell: Güterbahnhofareal), sanieren Altstadthäuser zu Luxuswohnungen (=> siehe Stadtplan im Innenteil). Natürlich haben diese Investor_innen ein starkes Interesse daran, die Mietpreise möglichst hoch zu halten.
Aber auch die Begleitumstände des „Tübinger Modells“ befeuern hohe Mietpreise: Stadt und Wohnbaugesellschaften verkaufen wertvolle Grundstücke und Immobilien und bauen hochwertige Eigentumswohnungen, auch, um damit den Bau von Sozialwohnungen zu finanzieren.
Die Befristung der Mietpreisbindung bei Sozialwohnungen bzw. Wohnungen der Baugruppen tut ihr Übriges dazu, dass das Angebot an günstigem Wohnraum nicht nachhaltig steigen wird. Dagegen steht auch z.B. der Verkauf von 550 Wohnungen der Landesbank Baden-Württemberg an einen Fonds oder das momentan geplante neue Stadtviertel „gehobenen Stils“ am Güterbahnhof. Und schließlich wird die Flucht- und Einwanderungsbewegung, die in absehbarer Zeit sicherlich kaum abnehmen und so einige 1000 Geflüchtete nach Tübingen führen wird, zu einer weiteren Verschärfung der Wohnungsnot beitragen. Nicht nur die Aufnahme von Geflüchteten unter menschenwürdigen Bedingungen und möglichst dezentral wird aufgrund des Mangels an günstigem Wohnraum enorm schwierig werden. Die noch einmal wachsende Konkurrenz um das schmale, noch bezahlbare Angebot wird für viele Tübinger_innen mit niedrigen oder auch mittleren Einkommen zu existenziellen Problemen führen. Denn mit all dem zusammen werden die Mieten und der Verdrängungsdruck weiter steigen.